BDI Präsident Peter Leibinger "Neue Zeiten – neue Haltung"
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Herr Merz, dass Sie heute hier sind, werte ich als klares Bekenntnis zur Wirtschaft in Deutschland. Meine sehr geehrten Damen und Herren – herzlich Willkommen auf dem Tag der Industrie 2025 in einem weiteren Jahr des Umbruchs.
Ich erspare Ihnen die geopolitischen Analysen, die kennen Sie. Und in den vergangenen Tagen hat sich der weltpolitische Ausblick angesichts der Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten nur noch weiter verdüstert. Gut, dass wir uns vor der Sommerpause austauschen - mit Mitgliedern der Bundesregierung, mit Unternehmerinnen und Unternehmern, mit internationalen Partnern und mit Ihnen allen.
Ein besonderer Dank geht an Deloitte und an Sie lieber Herr Krug sowie unsere weiteren Partner. Ohne Ihre Unterstützung wäre der TDI so nicht möglich.
Wir kommen aus einer Welt des scheinbar Ewigen Friedens. Einer Zeit, in der die Exportnation Deutschland viele gute Jahre hatte, mit ordentlichen Gewinnen, mit sicheren Arbeitsplätzen in der Industrie, mit hohen Löhnen und sehr guten Sozialleistungen. Jetzt sind wir aufgewacht in einer Welt, in der es langfristige Sicherheit nicht mehr gibt. Es ist eine neue Zeit.
Eine neue Zeit, in der die Bundesregierung ein gigantisches 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen auf den Weg bringt, in der beim NATO-Gipfel morgen endgültig ein Paradigmen-Wechsel eingeleitet werden soll und der Europa dazu bringt, aus eigener Kraft wehrhaft zu sein. Auch eine Zeit, in der der Zollstreit mit den USA – allein diese Wortfolge ist schrecklich - schon in wenigen Tagen in die nächste Runde geht.
Neue Zeiten - neue Antworten sind nötig, das ist evident! Wer heute Verantwortung trägt, egal ob in der Industrie oder in der Politik, dem stellt sich eine neue Aufgabe. Sie lautet „Navigieren im Ungewissen“. Das bedeutet, ein Ziel zu verfolgen, aber trotzdem immer auch in Szenarien zu denken und dabei jeden Tag trotzdem flexibel zu sein. Das Beste aus jedem Tag zu machen und trotzdem strategisch zu bleiben. Das ist Führung, wie sie uns heute abverlangt wird.
„Never let a good crisis go to waste“ – lasse niemals eine Krise ungenutzt. Das ist ebenso banal wie richtig. Was bedeutet das heute? Wir sollten uns trotz allem als Gestalter sehen, nicht als Objekt von widrigen Umständen oder gar als Opfer. Krisen lassen sich nutzen zur Selbstbesinnung, zur Neuorientierung und dem Anspannen der eigenen Kräfte. In unserer arbeitsteiligen Welt und angesichts der Vielzahl der Herausforderungen setzt das Zusammenarbeit voraus, kollektives Lernen und die Verständigung auf gemeinsame Ziele.
Denn gestalten in komplexen Zeiten, das geht nur gemeinsam. Meine Botschaft ist: In den nächsten Jahren gewinnt niemand allein, nicht die Industrie, nicht die gesamte Wirtschaft, nicht die Politik, nicht ein einzelnes europäisches Land. Das Gegenteil ist richtig: Wir gewinnen gemeinsam. Oder wir verlieren alle. Ich möchte Sie alle anstoßen und anstiften, damit wir gemeinsam gewinnen.
Wir gewinnen nur gemeinsam. Aber wie fangen wir das an? Ich denke erstens, eine Haltungsänderung ist hierfür nötig. Wirtschaft ist mehr als Broterwerb für die Belegschaft und Steuerquelle für den Staat. Wirtschaft ist Quelle der Identifikation für uns alle, sinnstiftend für den Einzelnen und Teil unserer Kultur. Und, Wirtschaft ist notwendige Voraussetzung für unsere Souveränität. Um dies leisten zu können, braucht Wirtschaft unternehmerische Freiheit.
Politik muss dies begreifen. Und Politik muss begreifen, dass die Rolle des Staates die des Ermöglichers von Neuem ist, nicht nur des Verhinderers von Ungewolltem, als der er heute oft erlebt wird. Die Zeit des übergriffigen Staates muss ein Ende haben! Die Wirtschaft braucht handwerklich saubere Gesetze, die auf Vertrauen basieren! Und die Wirtschaft braucht einen Staat, der das Eingehen von Risiken als Chance sieht, statt es verhindern zu wollen und damit jedes Handeln verhindert. Das meine ich auf der einen Seite mit Haltungsänderung.
Auf der anderen Seite meine ich die Haltungsänderungen der Wirtschaft, dass unsere Aufgabe nicht damit getan ist, unsere Mitarbeiter gut zu bezahlen und Gewinne zu erwirtschaften. Es gibt eine Gemeinwohlpflicht des Unternehmertums, die weit über das Bezahlen von Steuern und der sogenannten „Corporate Social Responsibility“ hinausgeht, bei der der Übergang zum Marketing oft fließend ist. Wir sind gefordert, uns viel mehr einzubringen in den politischen Dialog. Wir sind gefordert viel aktiver für unsere soziale Marktwirtschaft einzutreten im öffentlichen Diskurs, statt in vertrauten Zirkeln Politikbashing zu betreiben oder immer nur Forderungen an die anderen zu stellen. Stellen wir Forderungen auch an uns selbst. Das erhöht die Glaubwürdigkeit der Forderungen an andere enorm. Auch das meine ich mit Haltungsänderung. Das sage ich gerade als Präsident eines Interessenverbandes.
Was ich mit diesen Beispielen sagen möchte: Beide Seiten sind gefordert! Wie fangen wir das an? Mit schonungsloser Ehrlichkeit gegen uns selbst. Wir müssen auch über unsere eigenen Fehler reden, nicht nur über die Fehler der anderen.
Eigene Fehler? Zwei Beispiele: Als Ingenieur darf ich an dieser Stelle sagen, es kann schon sein, dass wir teilweise auch aus der Arroganz des Ingenieurs gehandelt haben bei der Beurteilung von bestimmten Technologien oder Wettbewerbern, ich denke hier an China. Als Unternehmer sage ich, vielleicht haben wir die Kapitaleffizienz – ich spreche von Working Capital Management – in der Abwägung gegen Resilienz überbewertet. Vielleicht waren wir im Denken oft zu kurzfristig ausgerichtet.
Zweitens brauchen wir außer realistischen Zielen auch eine Vision, die unsere Ziele überwölbt und ihnen einen Horizont gibt. Diese Vision ist mehr denn je eine geeinte, starke Europäische Union. Wer hätte denn gedacht, dass die EU so sehr zu einer Insel der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit von Nationen werden würde, in denen beides nicht mehr selbstverständlich wirkt? Darum betrachten immer mehr ausländische Spitzenwissenschaftler die EU als attraktive Heimat für freie Forschung und Lehre. Darum steigen die Investoren aus aller Welt auf einmal in die Flugzeuge nach Frankfurt, Paris und Mailand. Machen wir also die EU zu einem Magneten für die Besten aus aller Welt!
Entwickeln wir Europa weiter zu einer starken Gemeinschaft, die wir gemeinsam verteidigen. Eine Gemeinschaft, in der wir nicht immer Neues blockieren, indem wir auf den individuellen Maximalgewinn beharren. In der die EU-Mitgliedstaaten ehrlich die Meinung sagen und die berechtigten Interessen des Anderen ernst nehmen. In dem sie einander aber auch viel abverlangen und selbst viel leisten.
Herr Bundeskanzler, Sie sind nach Ihrem Werdegang und nach Ihrer inneren Einstellung ein überzeugter Verfechter der europäischen Integration. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass Ihnen europapolitische Leistungen gelingen, wie wir sie Helmut Schmidt und Helmut Kohl verdanken, dass Sie ein Kanzler werden, der Europa zusammenbringt und zusammenhält. Der den Mut zu schwierigen Entscheidungen hat und sie gut und tapfer begründet und vermittelt. Von den Zumutungen, die eine gemeinsame Verteidigung mit sich bringt, bis zur Kapitalmarktunion. In den kommenden Jahren müssen wir alle gemeinsam ein Europa bauen, das stark ist und widerstandsfähig. Sehr viele Bausteine sind vorhanden. Jetzt gilt es, ins Machen zu kommen und wir müssen schnell sein!
Ich komme zurück zur neuen Haltung, der Voraussetzung für neue Antworten. Und ich komme zurück zur Zusammenarbeit. Lassen Sie mich anhand einiger Beispiele aufzeigen, was ich mit dieser neuen, gemeinsamen Haltung konkret meine.
Erstens: Zusammenarbeit ist die Voraussetzung dafür, dass das von uns allen mantrahaft geforderte Vorhaben der Entbürokratisierung endlich praktisch wird. Wir Deutsche sind ein regelbewusstes Volk. Wir haben Regeln eingeführt, die Menschen schützen sollten. Das war gut so. Jetzt haben wir so viele Regeln, dass sie die Menschen sehr häufig fesseln. Wir glaubten eine Gesellschaft bauen zu können, in der es keine Risiken mehr gibt. Wir haben aber ein Gefängnis aus Regeln gebaut. Und das wird sich nur ändern, wenn die Politik den Unternehmen und den Bürgern wieder mehr Vertrauen schenkt. Weniger Kontrolle, mehr Vertrauen in verantwortliches Unternehmertum.
Die Beschleunigung von Planung und Genehmigung und der systematische Abbau von Berichtspflichten können nicht einfach angeordnet werden, sie müssen gelebt werden. Digitalisierung kann hier helfen und das neue Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung ist ein richtiges Signal.
Aber von der Wirtschaft ist Mitmachen gefordert. Der Staat kann auf sich allein gestellt die digitale Wende in der Verwaltung nicht schnell zum Erfolg bringen. Noch stärkere inhaltliche Unterstützung ist nötig. Wenn wir eingeladen werden, in Arbeitskreisen an konkreten Konzepten mitzuarbeiten, sind wir gefordert unsere besten Leute zu schicken. Wenn die Regierung uns neue Ansätze bietet, wie zum Beispiel die Idee der KI-Gigafactories, dann müssen wir bereit sein, Zeit und Geld zu investieren, statt das Haar in der Suppe zu suchen.
Zweitens: Technologische Autonomie ist nicht möglich, Souveränität ist es aber durchaus. Wenn wir vorhandene technologische Alleinstellungen nutzen und weitere schaffen, also Exklusivität, werden wir souverän sein. Die Voraussetzung ist eine gemeinsame Technologiestrategie, die die wichtigen Themen nach den Kriterien nationales Interesse, realistische Erreichbarkeit und strategische Wichtigkeit bewertet. Gemeinsame Roadmaps für diese Themen sind der zweite Schritt. Die Kernfusion ist ein Beispiel, auf die alle drei Kriterien zutrifft, Quantentechnologie ist dies auch.
Drittens: Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft ist auch der Schlüssel für unsere Verteidigungsfähigkeit. Wir liefern die Hardware und die Software für die Wehrhaftigkeit Europas, vom Panzerstahl bis zum Chip-Design. Dabei entscheidet sich aber die Innovationsführerschaft am Mix aus ziviler und militärischer Forschung. Für die Politik heißt das Offenheit für die Dual-Use-Anwendung, die Effizienz ermöglichen. Voraussetzung dafür sind schnelle Beschaffungsprozesse und harmonisierte Standards für Rüstung in Europa.
Für die Wirtschaft bedeutet dies Bereitschaft, sich dieser neuen Aufgabe auch inhaltlich zu stellen. Es geht nicht nur einfach darum Fabriken auszulasten, sondern eine aktive und gestalterische Rolle übernehmen zu wollen beim Wiederaufbau unserer Bundeswehr.
Und viertens: Wir sind nur mit einer zuverlässigen Rohstoffversorgung lebensfähig. Seit dem Hungerwinter 1947 legen wir in Deutschland strategische Reserven für Erbsen, Linsen und Bohnen an. Was wir noch nicht haben, sind strategische Reserven für Rohstoffe, Seltene Erden und Medikamente. Das sollten wir so schnell wie möglich ändern. Und uns die Kosten dafür zwischen Politik und der Wirtschaft im allseitigen Interesse fair aufteilen.
Auch hier ist die Zusammenarbeit wieder entscheidend und auch hier gibt es einen defensiven und einen offensiven Part. Zur Reserve muss der gezielte Ausbau von Stärken kommen, die uns Verhandlungsmacht verleihen. Gemeinsam mit der Politik können wir unsere Technologien identifizieren, die nur wir beherrschen und diese ausbauen – offensiv – aber auch in vertikale Lieferketten besonders kritischer Bereiche investieren, um so schrittweise die Abhängigkeit von externen Partnern zu reduzieren – defensiv. Japan hat es erfolgreich vorgemacht, davon können wir lernen. Am Ende heißt es wieder: Zusammenarbeit ist der Schlüssel.
Meine Damen und Herren, diese Beispiele verdeutlichen die neue Haltung, die ich einfordere. Die Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft ist elementar. Beide tragen eine Bring- und eine Holschuld.
Aber es gibt auch ungelöste Fragen, bei denen die Politik in die Verantwortung gehen und führen muss. Wir als deutsche Industrie nennen als erstes die Energiepreise. Es ist gut, dass die Bundesregierung Strompreise und Netzentgelte für die Unternehmen senken will. Aber eine nachhaltige Antwort auf die Frage, woher die deutsche Industrie ihre Energie zu wettbewerbsfähigen Marktpreisen bekommt, ist damit noch nicht gegeben. Subventionen sind keine Dauerlösung.
Mehr Realismus brauchen wir bei der Energiewende. Die Politik hat angesichts des Klimawandels zu Recht ehrgeizige Ziele formuliert. Aber am Ende schlägt die Physik immer das Wunschdenken. Wir brauchen ein realistischeres Vorgehen und tatsächlich erreichbare Ziele. Auch dies ist eine besonders schwere Aufgabe der Politik.
“Neue Zeiten, neue Antworten“ ist der Titel des heutigen TDI. Teil der Antwort ist eine neue, gemeinsame Haltung von Politik und Wirtschaft. Ein neuer Modus der Zusammenarbeit ist das Leitmotiv unserer Zeit. Für jede soziale Gruppe ist eine der wichtigsten Ressourcen gegenseitiges Vertrauen. In der Familie, im Verein, im Unternehmen und in der ganzen Gesellschaft hängt das Vertrauen von der begründeten Erwartung ab, fair behandelt zu werden. Das setzt bei allen den Willen voraus, die berechtigten Interessen der anderen wahrzunehmen und im eigenen Handeln zu berücksichtigen.
Dazu braucht es den fortwährenden Dialog darüber, welche Interessen im Spiel sind und was im wohlverstandenen Interesse Aller nötig und möglich ist. Besonders in einer Zeit, in der wir auf ein „Navigieren im Ungewissen“ angewiesen sind. Das verlangt von uns allen gut durchdachte eigene Positionen. Darum bemühen wir uns ehrlich Herr Bundeskanzler. Aber besonders auch verlangt es die Erkenntnis, dass fast niemals nur einer allein im Besitz der Wahrheit ist.
Vor uns liegen anstrengende Zeiten. Als neuer Präsident des BDI, der zum ersten Mal bei einem Tag der Industrie spricht, möchte ich drei Wünsche äußern: Ich wünsche uns erstens, dass wir all das, was wir von anderen fordern, jeweils auch uns selbst zumuten würden. Ich wünsche uns den Mut, ehrlich miteinander zu sein. Auch wenn es manchmal unpopulär ist. Und ich wünsche uns allen die Kraft, die Chancen zu erkennen, die wir haben und die unser Land uns bietet. Mit dieser Haltung packen wir die Herausforderungen erfolgreich an und gewinnen gemeinsam!
Herzlichen Dank.
Hinweis: Es gilt das gesprochene Wort.